Existierst Du noch oder lebst Du schon?

Von Hagen|17. April 2016|#notjustsad

Hagen. Ein weiterer Text aus der Serie über meinen Weg durch meine Depression. Zur Dokumentation meines Weges und meiner Gedanken, die ihn begleiten. Eine Art Abenteuer, wenn auch nicht von der Sorte, wie man sie Anderen wünscht. Dennoch freue ich mich über jede Art des Austausches, zum Beispiel in den Kommentaren.

Wenn ich mich umblicke sehe ich viele Menschen, die täglich zur Arbeit fahren, ihre Familie haben, mit einem Haus und ausreichend Versicherungen für das Alter vorsorgen, mehr oder weniger Karriere machen, sich in bequemer Sicherheit auf das Alter vorbereiten, die Freizeit mit ihrer Familie, an ihrem Haus werkelnd oder in irgendwelchen Vereinen verbringen, im Urlaub gerne pauschal reisen – und damit glücklich und zufrieden sind.

Dann blicke ich in den (metaphorischen) Spiegel und sehe einen Menschen, der über die Alltagsroutine depressiv geworden ist, der dem Leben im Augenblick eine höhere Bedeutung zumisst als der alleinigen Ausrichtung des Lebens auf das Alter (das man im schlimmsten Fall nicht mal mehr fit erreicht) – und mit dem Leben, wie es die meisten Menschen in seinem Umfeld leben, nicht glücklich und zufrieden sein kann.

Ich habe mich in den letzten Monaten und Wochen oft gefragt, was an mir anders ist. Warum ich einfach nicht mit dem Leben zufrieden sein kann, wie es die Mehrheit lebt. Warum ich einfach nicht normal bin.

Eine Frage, die besonders in der letzten Woche stark in mein Bewusstsein trat. Draußen war der Himmel wolkenverhangen und die Welt lag fernab der Sonne unter einem grauen Licht. Wetterfühlig, wie ich indessen bin, drückt sowas direkt und unmittelbar auf meine Stimmung. Das ist die Zeit, in der ich wieder mit meinen Ängsten und Selbstzweifeln zu kämpfen habe. Mich selbst unter Menschen einsam fühle. Sehe, wie sie mit dem einfachen, normalen Leben zufrieden und in diesem glücklich sind, während ich genau das nicht bin.

Was stimmt nicht mir mir? Eine Frage, die meine Zweifel zusätzlich genährt hat.

Lange habe ich es nicht begriffen – und ich glaube, dass es auch genug Menschen in meinem Umfeld gibt, die es nicht begreifen. Es ist vielleicht auch nicht einfach die gewohnten Denkmuster zu verlassen und auch andere Lebenseinstellungen und -wirklichkeiten als realistisches Lebenskonzept zu akzeptieren. Wie ich vor vier Wochen hier schon geschrieben habe besteht unser Leben meist aus dem Leistung fordernden Hamsterrad, der den Käfig aus Sicherheit ermöglicht. Der Garant für ein Bequemes und relativ sorgenfreies Leben. Vor allem darauf ausgerichtet, dass man es im Alter bequem und sorgenfrei hat.

Diesen Vorstellungen entsprang auch ein Rat in der letzten Woche, nachdem ich möglichst schnell wieder arbeiten gehen sollte. Da mir Erfolgserlebnisse fehlen, die ich auf der Arbeit erhalten kann. Mich auf die Arbeit zu konzentrieren, um für das Alter vorzusorgen. Meine Überlegungen des Gedankenfragments 6 (hier nachzulesen) wurden damit gekontert, dass ja genug ältere Menschen auch später noch reisen können. Als ob ich das nicht wüsste und mich freuen würde, wenn ich noch bis ins hohe Alter fit genug dafür bin. Aber nur mit der Hoffnung auf diesen möglichen Fall jetzt zu arbeiten und das Leben auf später zu verschieben ist für mich keine Option. Nicht mehr.

„To live is the rarest thing in the world. Most people exist, that is all.“ (Oscar Wilde)

Allen Menschen in meinem Umfeld, die mit ihrem „simple life“ zufrieden sind, im Gleichklang von Arbeit, Familie und Verein glücklich werden, gönne ich das von Herzen. Und ein Teil von mir ist auch neidisch, dass man in sich ruhend damit glücklich und zufrieden sein kann. Aber ich bin damit nicht zufrieden, es reicht mir nicht, um damit glücklich zu sein. Und ich bin indessen verdammt sicher, dass ich auch nie mehr lernen werde, wie man damit glücklich ist. Egal, was Ihr für „normal“ und „richtig“ und „vernünftig“ haltet!

Wenn ich von „leben“ rede, dann meine ich nicht ein Häuschen mit einem weißen Gartenzaun, sondern ein Lagerfeuer im Yosemite National Park. Dann meine ich nicht die Tätigkeit in einem Verein, sondern mich in der Serengeti auf die Suche nach den „Big Five“ zu machen. Dann meine ich nicht die Arbeit in irgendeinem Beruf, sondern auf der Suche nach Abenteuern (und vielleicht auch dem richtigen Motiv) in Jotunheimen durch den kalten Schnee zu stapfen. Es geht sicher auch eine Nummer kleiner, aber das ist mein Ziel, mein Traum – was ich unter „leben“ verstehe. Etwas, was ich nicht einem Leben im Käfig der Sicherheit und dem Hamsterrad opfern will.

„Das Hamsterrad sieht leider von innen aus wie eine Karriereleiter.“ (Ralph Goldschmidt)

Als meine Frau und ich in unserem Urlaub in Andalusien auf der Alcazaba in Alméria den Aussteiger Willi trafen, dann war ein Teil von mir neidisch. Natürlich weiß ich über die Vorteile der Renten- und Krankenversicherung und möchte sie nicht missen, aber ich habe unsere Reisebegegnung um sein freies Leben beneidet. Er mag oft überlegen müssen, wie er am nächsten Tag an Essen kommt, aber er wacht morgens am Strand auf und zieht herum, wie er möchte und er es spontan organisieren kann. Ein Aussteiger, der sein Leben im hier und jetzt lebt und der sicher schon Vieles erlebt hat.

Mehr als einmal habe ich in den letzten Wochen darüber nachgedacht einfach alles hinzuwerfen und mich auf den Weg zu machen. Doch so ganz kann auch ich mich aus meinem Käfig aus Sicherheit nicht befreien – vor allem aber liegt mir was an meiner Frau und meinen Söhnen. Übrig geblieben ist von dieser Entdeckerfreude und Abenteuerlust mein Plan diesen Sommer einige Tage auf eine mehrtägige Wanderstrecke zu gehen, vielleicht den Ahrsteig. Einfach mal weg von den ganzen gefühlten (und vielleicht teilweise auch eingebildeten) Verpflichtungen und Anforderungen. Auch als sinnvolle Alternative zu einem neuen Klinikaufenthalt, der immer noch zur Disposition steht.

Denn derzeit habe ich wieder das Gefühl, dass von jeder Seite aus an mir gezerrt wird und ich nicht zur Ruhe komme, um auf meinem eigentlichen Weg voran zu kommen. Ein Weg, der aus den tiefen Schluchten von Verzweiflung und Zweifel wieder emport führt auf festen Grund. Nicht nur für einige Tage, sondern möglichst dauerhaft. Ich muss lernen wieder auf eigenen Beinen zu stehen, dann muss ich neu gehen. Was ich dafür brauche ist Zeit. Doch ich habe das Gefühl genau daran mangelt es mir.

Auch der Mangel an finanzieller Sicherheit als logische Konsequenz des Krankheitszustandes belastet. Ich habe Angst, dass die finanzielle Angst mich wieder in das Hamsterrad zurück zerrt. Den vermeintlich bequemen und finanziell sicheren Weg zurück wähle, um auf Dauer unzufrieden und unglücklich zu sein bis zum nächsten Zusammenbruch. Bis zum nächsten Burnout. Bis zur nächsten Depression, die mich in den Abgrund zurück wirft. Daher bleibt die Angst, dass ich als Mangelverwalter nicht zur Ruhe komme, um eine Entscheidung über meine Zukunft zu fällen, die mich mit Leidenschaft erfüllt, mich auf Dauer zufrieden und glücklich macht.

„Und wenn sie immer denken: Ich müsste aber so sein wie die Anderen –  ein kleiner Trost: Andere gibts schon genug.“ (Eckhard von Hirschhausen)

Vor einigen Tagen hörte ich, dass man die Menschen (ohne Wertung) auch in „Ruhende“ und „Suchende“ einteilt. Die „Ruhenden“ ruhen in sich selbst, sind seltener depressiv, sind leichter zufrieden und glücklich, mit dem, was sie haben und erreichen können, leben gerne in ihrem Umfeld. Die „Suchenden“ sind genau das nicht. Sie sind immer auf der Suche nach Neuem, nach Sinnhaftigkeit, brauchen ständig neuen Input und Inspiration – und sind häufiger depressiv. Wenn das wirklich so ist, dann gehöre ich definitiv zur zweiten Gruppe.

Meine Prioritäten sind scheinbar anders, als die der Mehrheit in meinem Umfeld. Daher wird auch mein Leben anders sein. Muss es sein, wenn ich zufrieden und glücklich sein will. Lebensfreude geht vor Sicherheit. Auch wenn ich noch etliche Berge von Selbstzweifeln von meinem Weg räumen muss – es geht voran. Nicht von heute auf morgen, aber ich bin sicher, dass übermorgen dufte Abenteuer auf mich warten und meine Träume wahr werden.

„You are not too old to set another goal or to dream a new dream.“ (C.S. Lewis)

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