Abbotsford House und Scott’s View
Hagen. Nach unserer zweiten Nacht in unserem auf seltsame Weise anheimelnden Domizil ging es an Tag 3 unserer Borders-Tour 2015 nach einem britischen Frühstück gut gestärkt zu weiteren schönen, interessanten, historischen und atemberaubenden Plätzen. Dabei folgten wir auch an diesem Tag unter anderem den Spuren von Sir Walter Scott, einer der wichtigsten Persönlichkeiten, die Schottland je hervor gebracht hat und der diesem Land auch seinen Stempel aufgeddrückt hat. Und wo kann man ihm näher kommen als in dem Haus, in dem er gelebt und gearbeitet hat?
So standen wir schon vor den Öffnungszeiten am modernen Eingangsgebäude von Abbotsford House, dem Wohnsitz des schottischen Schriftstellers und Nationalhelden Sir Walter Scott. Er war bei unserer Reise immer wieder gegenwärtig, wie man ja schon in meinen vorherigen Blogbeiträgen lesen konnte. Es ist aber auch fast unglaublich, was dieser Mann alles für Schottland gemacht hat.
So hat er unter anderem 1818 die schottischen Kronjuwelen, bestehend aus Krone, Staatsschwert und Zepter, wieder entdeckt. Die waren nämlich nach dem Zusammenschluss von Schottland und England zu Großbritannien 1707 in einer Kiste weggeschlossen und auf Edinburgh Castle eingemauert worden. Die Krone soll sogar noch den Reif, mit dem Robert the Bruce 1306 gekrönt wurde, enthalten. Das Schwert stammt aus Italien, wo Papst Julius II. es 1507 persönlich König James IV. überreichte. Keiner wusste mehr, wo diese „Honours of Scotland“ geblieben waren – bis sie sie Sir Walter Scott 111 Jahre nach ihrer „Einlagerung“ förmlich aus der Truhe zauberte.
Sein Haus erhielt seinen Namen durch seinen berühmten Eigentümer, der damit Bezug nahm auf den Besitz von Land und Furt (engl. Ford) durch die Äbte (engl. Abbots) von Melrose. Denn das Anwesen liegt nur wenige Fahrminuten von Melrose Abbey entfernt. Früher stand an dieser Stelle die kleine Farm Cartleyhole. Es ist zu vermuten, dass es keine schöne Farm war, denn sie trug den Scherznamen „Clarty Hole“ (Schlammloch). Das hat Scott aber nicht abgehalten das Anwesen 1811 zu erwerben und in den folgenden Jahren noch zu erweitern und bis 1824 zum Herrenhaus im frühen Scottish Baronials-Stil umzubauen. Der linke Trakt wurde später durch seine Erben angebaut, da schon kurz nach seinem Tod die Touristen kamen und es wohl etwas nervig war, dass diese ständig neben einem am Esszimmertisch standen.
Wobei ich glaube, dass Walter schon ein wenig manisch war, was seine Begeisterung für Schottland zum Einen und seine Sammelwut zum Anderen anging. Wenn ich aber ganz ehrlich bin: Ich könnte nicht ausschließen, dass ich bei den Sachen, die er in seinem Herrensitz so rumliegen, stehen und hängen hatte, nicht auch der Sammelleidenschaft verfallen würde. Abgesehen von der grandiosen Bibliothek neben dem ebenfalls mit Büchern vollgestopften Arbeitszimmer – dagegen ist meine über fünf Meter lange Bücherwand ein schlechter Witz – hat er auch Waffen, Relikte und Kuriositäten gesammelt.
Ein Freund hat ihm zum Beispiel zwei komplette Uniformen aus der Schlacht von Waterloo mitgebracht, die in der Diele hängen. Ihnen gegenüber stehen zwei deutsche Plattenrüstungen. Und das sind nur die Stirnwände. Schier unglaublich, wenn man es nicht gesehen hat und ich es nicht mit Fotos beweisen könnte. Dabei ist das nicht mal der einzige Raum mit Waffen. Apropos Waffen: Unter einer Glasplatte auf einem Tisch liegt in der Bibliothek auch der Dirk von Rob Roy. Neben einer Locke von Bonnie Prince Charles und solchen Dingen. Meine Frau und ich sind ja etwas skeptisch und tippen darauf, dass es auch damals schon gute Trickbetrüger gab. Wie auch immer: Das Haus ist eine wahre Fundgrube und man hätte sicher noch den ganzen Tag dort was zu entdecken gehabt.
Bei den Entdeckungen und mit vielen Informationen standen uns die netten Damen und Herren, die dort als Guides tätig sind, zur Seite. Das freundliche Willkommen zeugte auch hier von der Herzlichkeit der Lowländer (sagt man das so?), die uns in unserem Urlaub hier bzw. dort überall begegnet ist. Wir waren auch kaum im Haus, als wir schon mit Frank über die Waffen und Rüstungen aus den verschiedenen Epochen gefachsimpelt haben. Frank ist uns auch später noch mal hinterher gekommen und hat uns viele kleine und große Dinge von dem Haus und dem Umland erzählt. Gerade die informative und nette Zeit mit Frank hat dem Besuch eine besondere Note gegeben.
Aber kommen wir mal zu Sir Walter Scott. Der wurde in Edinburgh 1771 geboren (wo ihm nach seinem Tod auch ein riesiges Monument an der Princess Street erbaut wurde) – und damit in einer Zeit, die für Schottland eine Zeit der Umwälzung war. Noch keine dreissig Jahre war es her, dass Bonnie Prince Charles versucht hatte die schottische Königskrone zurück zu gewinnen und in der Schlacht von Culloden vernichtend geschlagen wurde. Daraufhin trat 1746 der „Act of Proscription“ in Kraft, der unter anderem darauf abzielte die Clans und ihre Macht zu zerschlagen. Ein Abschnitt, bekannt als „Dress Act“ verbot zudem das Tragen von Kilts und Tartans (von dem nur die Hochadligen und die Hochlandregimenter ausgeschlossen waren). Auch die „Highland Clearances“ waren schon im Gange, die das traditionelle Schottland grundlegend verändern sollten.
Die Räumung des Hochlandes durch die Großgrundbesitzer wandelte das Bild als auch die Gesellschaft Schottlands grundlegend. In brutaler Weise wurden die Pächter von ihrem Land vertrieben, um Platz für die Schafzucht zu machen. Entweder wurden sie umgesiedelt, siedelten nach Amerika über (oft auch unfreiwillig) oder flohen in die Städte. Der Wandel von der Agrarwirtschaft zu einem Industrieland führte überall in Europa zur Landflucht, doch selten war es so zentral „von Oben“ initiiert wie in Schottland. Einheimische, landlose Kleinbauern und Pächter wurden von dem Land, das sie oft seit Generationen bewohnten, vertrieben; Dorfgemeinschaften wurden auseinander gerissen und ganze Ortschaften ausgelöscht. Dafür traten riesige Schafherden an ihre Stelle.
Schafszucht war in Schottland ja nicht neu, wenn man zum Beispiel der 15.000 Schafe der Abtei von Melrose im Mittelalter denkt. Aber im Zuge der Industrialisierung wurde die Schafzucht weiter optimiert – und damit konnten die schottischen Kleinbauern einfach nicht mithalten. Die Gutsherren, die diese Räumung (die übrigens erst 1886 wirklich endete) nicht mitmachen wollten, gingen meist pleite, was die Situation für ihre Pächter auch nicht besser machte. Diese Zeit, die ihren Eingang in den nationalen Myhtos von Schottland gefunden hat, zerstörte endgültig das schottische Clanwesen. Auch die gälische Sprache war danach weitgehend ausgestorben. Kein Wunder, denn in einigen Regionen Schottlands lebten danach (und bis heute) nur ein Zehntel der ursprünglichen Bevölkerung.
Geboren in der Endphase der schottischen Aufklärung hatte Walter noch elf Geschwister, wobei sechs von ihnen schon im Kindesalter starben. Wie groß die Kindersterblichkeit noch im 19. Jahrhundert war konnten wir übrigens an vielen Grabsteinen ablesen. Walter wäre sicher auch kein Impfgegner gewesen, denn er infizierte sich zweijährig mit Polio, was bei ihm ein gelähmtes Bein hinterließ. Da konnte er froh sein, dass seine Eltern keine Bauern oder Schäfer waren (bei denen er sicher hätte auf dem Feld hätte helfen müssen), sondern ein Rechtsanwalt und die Tochter eines Medizinprofessors (und Letztere dann sicher Ehefrau und Mutter). Bildung war daher nicht sein Problem. Er machte dann auch bei seinem Vater die Anwaltslehre, bevor er an der Universität Edinburgh Jura studierte. Entweder war er fix oder damals ging das Alles noch etwas schneller, denn mit 21 Jahren war er schon Advokat.
Ein Beruf, den er übrigens 14 Jahre lang ausübte. Dann war er 33 Jahre als Sheriff tätig, teilweise zeitgleich mit seiner vierundzwanzigjährigen Tätigkeit als Clerk of Session. Auch wenn er als Schriftsteller berühmt wurde, so war doch die Juristerei der Beruf, den er sein ganzes Leben lang ausübte. Und neben diesem Beruf fing er irgendwann an zu schreiben (dazu gleich aber noch mehr), hatte aber auch noch die Zeit Charlotte Carpenter, die Tochter eines französischen Flüchtlings (wahrscheinlich wegen der Revolution und/oder Napoleon), zu heiraten und mit ihr fünf Kinder zu zeugen – von denen vier Kinder überlebten.
Schon früh widmete sich Walter der Literatur – und zwar als Übersetzer. Besonders begeisterte ihn die deutsche zeitgenössische Literatur, so dass unter anderem der „Götz von Berlichingen“ zu seinen Übersetzungen zählte. Klar, dass den deutschen Balladen irgendwann auch schottische Volksballaden folgten. So veröffentlichte er 1802 das dreibändige Werk „The Minstrelsy of the Scottish Border“, in dem sich von ihm bearbeitete und eigene Balladen fanden. Es folgten in den darauffolgenden Jahren epische Verserzählunge, die erstaunliche Auflagenhöhen erreichten.
Balladen und Dichtungen – das war hohe Literatur. Unter Poesie konnte man seinen Namen drunter setzen, ohne sich Angst um seine Reputation zu machen. Anders sah es damals mit der Prosa aus, mit Romanen, die in erster Linie zu Vergnügen und Zeitvertreib dienten. Zweitklassig und unseriös war, wer sich damit auseinander setzte. Was auch der Grund war, warum Walter im Jahr 1814 seinen Roman „Waverly“ anonym veröffentlichte. Mit diesem Werk begründete er auch das Genre der historischen Romane, die sich bis heute großer Beliebtheit erfreuen (was man bei einem Besuch im Buchladen nur unschwer erkennen kann).
Der Roman „Waverly“ spielt zur Zeit des jakobitischen Aufstandes von Bonnie Prince Charles und bringt – trotz aller Befürwortung eines britischen Gesamtstaates – Verständnis für die Traditionen des alten Schottlands auf. Ich muss gestehen, dass ich ihn noch nicht gelesen habe, aber vorhabe dies bald nachzuholen. Scott zumindest beließ es nicht bei diesem Roman, sondern schrieb weiter. In den folgenden Jahren durchschnittlich mehr als ein Buch pro Jahr, was verdammt produktiv war.
Die meisten Romane und Erzählungen befassten sich – wenig überraschend – mit Schottland und seiner Geschichte. Es gab aber auch Bücher, die woanders angesiedelt waren. Zu den bekanntesten dieser Romane zählt sicherlich „Ivanhoe„. Die Geschichte eines englischen Ritters zur Zeit von Richard Löwenherz, der von den Konflikten des Landes nach der Eroberung durch die Normannen im Jahre 1066 erzählt. Selber habe ich diese Geschichte das erste Mal Anfang dieses Jahres gelesen und war begeistert: vom Erzähl- und Schreibstil schön zu lesen sowie so unterhaltsam, dass man es nie gerne aus der Hand legte. Ein Buch, das mir auf mehr Romane aus der Feder von Sir Walter Scott Lust gemacht hat.
Nicht nur in Schottland (wo er seit 1820 Chef der Royal Society of Edinburgh war) wurden Walters Bücher gerne gelesen. In ganz Großbritannien fanden sie einen reissenden Absatz. Und über die Grenzen des vereinigten Königreiches hinaus. „Shakespeare der Erzählungen“ lautete das Lob aus dem Munde von Fontane, der wie Goethe einer seiner Fans war. Er beeinflusste Schriftsteller wie Hauff, Cooper (der Typ, der de Klassiker „Lederstrumpf“ schrieb), Hugo („Glöckner von Notre Dame“) und Puschkin.
Nicht nur auf literarischer Ebene hat Sir Walter Scott viel bewirkt, sondern auch auf gesellschaftlicher und politischer. Denn seine Romane haben viel für die Verständigung zwischen verschiedenen Volksgruppen in Großbritannien getan, denn in seinen Büchern beschrieb Walter die verschiedenen Positionen und schaffte damit Verständnis. Nicht nur hinsichtlich der Stuart-Anhänger und der Schotten, sondern auch gegenüber zum Beispiel den Katholiken. Er schaffte es, dass die starken Sanktionen nach dem Jakobiter-Aufstand gelockert und damit die Schotten mit der englischen Krone (zumindest in einem ersten Schritt) versöhnt wurde. Denn er organisierte den Besuch von König Georg IV. in Edinburgh, wo Kilts und Tartans zu sehen sowie Dudelsäcke zu hören waren. Durch ihn wurde die schottische Lebensweise en vogue – einstmals Hort von provinziellen Aufrührern, jetzt Heimat edler Clans sozusagen.
Zurück zum besuchten Gebäude, das in gewisser Weise die Lebenseinstellung seines Besitzers wiederspiegelt: Ein Konservativer, der Wert auf Traditionen legte und sich besonders gegen liberale Ideen und alle Pläne, die Schottlands letzte Reste von Eigenständigkeit bedrohten, stellte – aber moderner Technik nicht ablehnend gegenüber stand. So war Abbotsford House eines der ersten Gebäude in Großbritannien mit Gasbeleuchtung. Auch die Klingeln für das Personal wurden hier nicht mit Seilzügen, sondern mit Druckluft betrieben. Außer Haus stellte er sich politisch unter anderem dem Plan entgegen die Notenbanken von England und Schottland zusammen zu legen – weshalb sein Konterfei noch heute auf jedem schottischen Geldschein zu sehen ist.
1824 wurde Abbotsford House fertig gestellt (drei Jahre, bevor er offiziell zu gab, der Schriftsteller seiner Romane zu sein) – und ein Jahr später kam es zur britischen Finanzkrise, die auch Walter in finanzielle Probleme brachte. Das Haus selber, das er schon seinem Sohn Walter übertragen hatte, war nicht in Gefahr, aber seine umfangreiche Sammlung, seine Bibliothek, sein Wohnrecht und sein Vermögen. Das war wohl der dunkelste Moment in seinem Leben, als diese Dinge unter Treuhandverwaltung gerieten. Aber Walter Scott war ein Macher. Er hat danach gearbeitet wie ein Verrückter (womit er leider seine Gesundheit ruinierte) und schaffte es wirklich seine Schulden bis zum Tag seines Todes zu halbieren.
Gestorben ist Sir Walter Scott im Jahr 1832 in seinem Bett, das in dem Erker des Esszimmers mit Blick auf den Tweed aufgestellt worden war. Beerdigt wurde er in Dryburgh Abbey (der nächsten Station auf unserer Schottland-Tour). Zum Zeitpunkt seines Todes war er Ehrenbürger von Edinburgh, Ehrendoktor der Universität Dublin und 1. Baronet von Abbotsford (und damit in den Adelsstand erhoben worden). Eine besondere Auszeichnung erhielt er 1813, als man ihn fragte, ob er nicht königlicher Hofdichter werden wollte. Wollte er aber nicht. Wahrscheinlich, weil er dann sein geliebtes Schottland hätte verlassen müssen.
Scotts ältester Sohn Walter, sein Erbe, lebte nie in dem Haus. Er diente beim Militär und starb 1847 kinderlos auf der Heimreise von Indien. Das Anwesen – inklusiven der schönen Gartenanlage, die man nicht unerwähnt lassen sollte – fiel damit an die Nachkommen von Scotts Tochter Sophia. Bis ins 21. Jahrhundert wurde es von Scotts Nachkommen bewohnt. Um die Bewahrung des Hauses und der darin befindlichen Sammlungen auf Dauer und für die Öffentlichkeit zu sichern, wurde es nach dem Tod von Jean Maxwell-Scott (2004) von den Erben auf den zu diesem Zweck gegründeten gemeinnützigen Abbotsford Trust übertragen. Damit zählt Abbotsford House zu den wenigen Sehenswürdigkeiten auf unserer Tour, die nicht durch „Historic Scotland“ betreut werden.
Das Haus ist nicht nur für Kultur- und Geschichtsbegeisterte ein Muss bei einer Tour durch das südliche Schottland. Meiner Ansicht nach ist es auch ein Muss für jede Schottlandreise, weil man nur hier dem Ursprung von Schottland als Land zwischen Tradition und Moderne auf die Spur kommen kann. Denn das, was wir heute (außer der Landschaft selbst) mit Schottland assoziieren hatte in großen Teilen bei dem Bewohner dieses Hauses seinen Ursprung. Nicht umsonst ist Sir Walter Scott ein (wenn nicht der) schottischer Nationalheld.
Wenn man schon mal in der Gegend ist: Auf der Strecke zwischen Abbotsford House und Dryburgh Abbey liegt ein Ort, von dem man einen schönen Blick über die schottischen Borders hat. Durch das Tal schlängelt sich der Fluss Tweed und wird im Hintergrund durch die drei Gipfel des Eildon Hill dominiert. Hier soll auch früher den Ort Mailros („Old Melrose“) gegeben haben, bevor er nach der vollständigen Zerstörung im 9. Jahrhundert einige Jahrhunderte später rund um die heutige Melrose Abbey neu entstand. Dieser Ort zählte zu den liebsten Aussichtspunkten von Sir Walter Scott, weshalb er auch unter dem Namen „Scotts View“ bekannt ist. Selbst auf dem Weg zu seiner Beerdigung sollen seine Pferde hier angehalten haben, weil sie es so gewohnt waren. Eine schöne Legende, die den Bogen spannt zu seinem Grab und damit zur Dryburgh Abbey (über die der Blogbeitrag noch folgt).
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