Grenzgänger

Von Hagen|31. März 2016|#notjustsad

Hagen. Ein weiterer Text aus der Serie über meinen Weg durch meine Depression. Zur Dokumentation meines Weges und meiner Gedanken, die ihn begleiten. Eine Art Abenteuer, wenn auch nicht von der Sorte, wie man sie Anderen wünscht. Dennoch freue ich mich über jede Art des Austausches, zum Beispiel in den Kommentaren.

Unterwegs an der Grenze. Wanderer zwischen Licht und Dunkelheit. Spaziergänger zwischen Furcht und Hoffnung. Ein Weg zwischen Schlendern und Hetzen. Einmal das Wild, andermal der Jäger. Ständig die Seite wechselnd durch tiefe Täler und über hohe Gipfel. Selten in Ruhe ausgleichend verharrend. Oft wechselhaft ohne inneren Frieden. Auf meiner seelischen und geistigen Wanderung bin ich derzeit ein Grenzgänger. Bewegt durch das Chaos (zu) vieler Gedanken.

Der Wunsch nach Bewegung, nach Vorankommen, getrieben von Hoffnung und Mut, nach einem Leben voller Abenteuer und Wunder, trifft immer wieder, trifft immer noch viel zu oft auf eine Mauer aus Zaudern, Zögern, Furcht und Angst. Das Gefühl nach Aufbruch und Verwirklichung mit dem Wunsch nach Glück und Erfüllung, gebremst und aufgehalten von einer vermeintlichen Vernunft, der Bequemlichkeit einer Alltagsroutine, die eigentlich schon längst in ihrer Alltagstauglichkeit für mich versagt hat.

Sitze hier und träume von Abenteuern, spontanen Ausflügen und interessanten Begegnungen, berührenden Erlebnissen und ausgefüllten Momenten, während ich jede Spontanität und Flexibilität wieder auf dem Altar der Erwartungen und Zweifeln opfere. Auf einem Altar von Erwartungen, die mich nicht zur Ruhe kommen lassen. Ich halte mich ständig in Bewegung, komme nicht zur Ruhe, selbst wenn Sturmkrähe mir (wie am Sonntag) demonstriert, dass die Grenze nahe ist. Die Grenze, die meine Belastbarkeit wieder auf eine starke Probe stellt. Die Grenze, an der ich verzweifelt und frustriert stehe und nicht mehr weiter weiß.

Meine Grenzerfahrung. Eine Niedergeschlagenheit, die nicht weichen will, und sich wie ein dämpfendes Kissen auf alle positiven Empfindungen legt. Jeden schönen Moment schwerer begreifbar und erlebbar macht. Unstet und unruhig wandelt man umher, schwer fällt Motivation für eine Aufgabe zu finden oder die Freude an einer Sache zu empfinden. Selbst die Dinge, die einem sonst oft Freude machten, wirken plötzlich fade und schal. Ständig zweifelt man an sich selbst und seinen Fähigkeiten, während man auf einem Grad der Trauer wandelt, hinter dessen fadenschneidigem Vorhang die Tränen warten. Eine Depression ist wie ein Strudel, bei dem man in ständiger Angst lebt, dass er einen hinunter zieht und ertrinken lässt.

Ich suche hinweg zu schwimmen, dem Strudel zu entfliehen. Ein neues Leben zu finden. Nicht weiter Grenzgänger zu sein. Ohne die Höhen und Tiefen, Auf und Abs, in ständigem, sprunghaftem Wechsel zu empfinden. Auch wenn ich an mir selbst verzweifle, da ich nicht verstehe, warum ich nicht im Alltag glücklich sein kann. Frage mich, warum mich der ganz normale Alltag, wie ihn die meisten Menschen erleben und leben, körperlich und seelisch auffrisst. Weiß, dass ich dem Strudel nur entkomme, wenn ich etwas ändere. Ich.

Ich muss den Altar aus Erwartungen und Zweifeln niederreissen, auf dem ich mein Glück und meine Träume der vermeintlichen Bequemlichkeit einer Alltagsroutine, deren Lebensrealität mich krank gemacht hat, opfere. Mehr handeln, weniger grübeln! Einfach mal machen, anstatt alle Ideen kaputt zu denken! Spontane Wochenendausflüge und verrückte Abenteuerideen erleben, anstatt aus vermeintlichen Vernunftgründen in der häuslichen Mittelmäßigkeit hängen zu bleiben. Leben statt reden!

Vernunftgründe haben mich dahin geführt, wo ich heute bin. Wenn ich zurück blicke sehe ich vor allem verpasste Chancen. Träume und Pläne, die am Alltag zerschellt sind. An einem Alltag, in dem meist meine Zweifel gesiegt und ich den bequemsten Weg eingeschlagen habe, anstatt einfach mal mutig das Abenteuer auf ein eigenes und selbstbestimmtes Leben zu wagen. Ich stelle mir vor, was alles hätte sein können, was ich alles hätte werden und vor allem was ich alles hätte machen können. Was für Chancen sich geboten haben. Chancen, die ich verpasst habe.

Ich bin mir des Glückes bewusst in eine großartige Familie hinein geboren zu sein, die sich trotz aller Meinungsverschiedenheiten umeinander kümmert und zusammen steht. Ich weiß, dass ich zwei tolle Söhne habe, die zu wunderbaren Menschen heran gewachsen sind und auf die ich unheimlich stolz bin. Ich weiß, dass ich eine fantastische Ehefrau habe, die mich trotz all meiner Schwächen liebt, mich durch meine Krisen begleitet und mich bisher selbst im größten Chaos trotz aller Schwierigkeiten unterstützt – was mehr ist, als man erwarten darf.

Doch hätte ich das Alles nicht auch haben können, wenn ich mehr Chancen wahrgenommen hätte? Könnte ich jetzt woanders stehen und zufriedener auf mein bisheriges Leben zurück blicken? Erfüllt sein, anstatt eine große Leere  zu fühlen?

Ich bin jetzt vierzig Jahre alt und erfüllt von der Angst in zwanzig Jahren immer noch unglücklich auf mein Leben zurück zu blicken. Auf ein Leben voller verpassten Chancen, zerplatzter Träumen und zerstörter Plänen. So lange man jung ist, hat man das Gefühl, dass noch viel Zeit bleibt, um das Leben zu leben, das einen glücklich macht und erfüllt. Doch jetzt habe ich das Gefühl, dass die Zeit davon läuft. Dass sie rennt.

Passend höre ich gerade den Song „Remember When“ von Alan Jackson und schaue mir den Anfang des Films „Oben“ an. Diese kurze Filmsequenz beinhaltet meine Angst. Was ich denke, fühle und empfinde. Ich habe Angst, dass ich plötzlich aufwache und erkennen muss, dass ich zu alt geworden bin, um noch meine Träume zu leben. Zu alt, um die Abenteuer zu erleben, die ich noch bestehen möchte. Zu alt, um die Orte zu besuchen, die ich noch sehen möchte. Aber auch Angst vor dem (hoffentlich nie eintretenden) Tag, an dem ich erkennen muss, dass ich diese Augenblicke und Erlebnisse nicht mehr mit der Frau teilen kann, die ich liebe.

Ich habe Angst vor einem Leben, das in ein Korsett aus Alltagsroutine, Erwartungsverpflichtungen und Druck gepresst wird. Dass ich an einer Lebensrealität zerbreche, die nicht meine Eigene zu sein scheint. Ich habe Angst davor als alter Mann auf mein Leben zurück zu blicken und festzustellen, dass mein Leben sich nicht gelohnt hat gelebt zu werden.

Es ist einfach von Erwartungen Dritter, den Abhängigkeiten von der Erziehung, den Zwängen der Gesellschaft, den Einflüssen der Umwelt, den Einschränkungen des Alltags zu sprechen – was ich gemacht habe. Lange genug. Auch wenn es schwer fällt muss ich erkennen und begreifen, dass es letztendlich an mir liegt. Ich muss etwas ändern. Ich. Mich. Vor allem aber muss ich mein Element finden und es nutzen. Die richtige Umgebung finden, um meinen Pinguin zum schwimmen zu bringen.

„[…] wie wichtig die Umgebung ist, damit das, was Du kannst, überhaupt zum Vorschein kommt. Menschen ändern sich nämlich nicht komplett und grundsätzlich. Wenn man als Pinguin geboren wurde machen auch sieben Jahre Psychotherapie aus Dir in diesem Leben keine Giraffe. […] Stärken zu stärken ist soviel sinnvoller als an seinen Schwächen herum zu doktern. Und wenn sie immer denken: Ich müsste aber so sein wie die Anderen –  ein kleiner Trost: Andere gibts schon genug.“

[Es lohnt sich das Pinguin-Prinzip von Eckart von Hirschhausen in voller Länge (nur etwas über 3 Minuten lang) anzuschauen. Hier zum Beispiel. Wenn man genug Zeit hat, dem kann ich auch die gesamte Show – auf YouTube in mehreren Teilen verfügbar – empfehlen.]

Ich bin ein Grenzgänger und werde es wohl immer bleiben. Doch es ist meine Entscheidung, wie ich meine Wanderung an der Grenze gestalte. Es liegt auch an mir zu bestimmen, was für Grenzen es sein werden. Grenzen, die mich bestimmen und einengen, oder die Grenzen, die ich bestimme und mir die Möglichkeit geben sie immer weiter hinaus zu schieben. Einfach mal machen!

Grübelst Du noch, oder lebst Du schon?

Heute jedenfalls habe ich viel zuviel gegrübelt. Wieder einmal. War wieder voller Zweifel und Furcht, wo mir Mut und Spontanität besser zu Gesicht gestanden hätte. Abenteuer erlebt man nicht in seiner Komfortzone – wird Zeit, dass ich das endlich verstehe. Und nicht nur verstehe, sondern auch entsprechend handle. Das Auto immer vollgetankt, den Rucksack immer gepackt, bereit einfach aufzubrechen. Leben passiert draußen, wie ich hier schon mal geschrieben habe. Es wird Zeit, dass das mal in meinen Dickschädel geht – und ich mich nicht von jeder spontanen Planänderung überfordern lasse. Vielleicht ist es wirklich eigentlich so einfach:

Be an adventurer!

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