Den Moment erleben und erfühlen
Hagen. Ein weiterer Text aus der Serie über meinen Weg durch meine Depression. Zur Dokumentation meines Weges und meiner Gedanken, die ihn begleiten. Eine Art Abenteuer, wenn auch nicht von der Sorte, wie man sie Anderen wünscht. Dennoch freue ich mich über jede Art des Austausches, zum Beispiel in den Kommentaren.
Auch mit meinem kleinen Neffen, der zielstrebig seinem dritten Geburtstag entgegen eilt, ging der gestrige Spaziergang bei der Familienfeier auch über eine Asphaltstraße. Von dem Regen aus seiner Behausung vertrieben suchte sich ein Regenwurm dort seinen Weg. Mittels eine Blattes habe ich ihn aufgenommen und es neben der Straße auf dem Gras abgelegt. Alle Anderen waren derweil schon voraus gegangen und nicht mehr zu sehen. Ergo habe ich, kaum dass das Blatt das Gras berührte, Justus zur Eile gedrängt. Doch der ließ sich nicht drängen.
Ihm war es egal, dass die Anderen schon weiter geeilt waren, und es weiter voran auf dem Weg noch Ponies und Damwild zu sehen war. Er wollte jetzt erst zusehen, wie sich der Regenwurm mit dem Zusammenziehen und Auseinandergehen seinen Leibes vom Blatt weg bewegte. Und zwar bis selbst die Schwanzspitze des Wurmes im Gras verschwunden war. Egal, wie lange es dauert. Denn es war dieser Moment, in dem er das Wunder der Schöpfung in seiner ganzen epischen Breite in Form des Regenwurmes beobachten wollte.
Ich selber merkte, wie sich bei mir Stress entwickelte. Weil die Anderen warteten und wir ja noch weiter voran am Wegesrand Dinge betrachten wollten. Weil wir doch keine Zeit hatten, um einen Regenwurm bei der Fortbewegung zu betrachten. Ihn dabei zu bestaunen. Wir mussten doch weiter!
Bullshit! Wir hatten alle Zeit der Welt! Anstatt immer weiter zu streben, um hinter dem nächsten Hügel etwas vielleicht Interessantes zu sehen, könnte man auch mal den schönen und interessanten Augenblick genießen, den man jetzt gerade im Moment hat. Das in sich wirklich mit Zeit und Muße aufnehmen und erfühlen, was man gerade vor sich hat und erlebt. Sich nicht von anderen oder eigenen Erwartungen stressen und um tolle Momente bringen lassen. Mal zur Ruhe kommen, tief durchatmen, sich die Zeit nehmen, anstatt ständig in Bewegung zu bleiben.
Wieder lernen die Schönheit zu sehen, die direkt vor einem ist. Sich die Zeit nehmen, sie zu erleben und zu fühlen. Nicht direkt zum nächsten Programmpunkt weiter zu eilen, um sich dann daheim nur noch anhand der gemachten Fotos an die besuchten Orte zu erinnern.
Das hat mir Justus gestern beigebracht. Mir gezeigt, als ich einfach tief durchgeatmet und den Stress abgestreift hatte. Als ich mich neben ihm hinkniete und interessiert den Regenwurm beobachtete, wie er sich vom Blatt ins Gras begab. Bewusst die Bewegungen des Leibes wahrnahm, die es dem Wurm ermöglichten, ohne Beine und Füße voran zu kommen.
Ich weiß, dass ich das früher schon gesehen habe. Ich vermute als Kind, als ich noch die Geduld und Kraft hatte mich gegen die stressenden Erwartungen und deren Druck zu stellen. Als ich noch in der Lage war auch einfach mal im Augenblick zu leben und aus Neugier und Interesse die Welt um mich herum zu vergessen. Aus Begeisterung für die kleinen Wunder dieser Welt.
Wir sind danach entspannt weiter gegangen. Wir haben die Anderen eingeholt. Wir haben noch das Damwild gesehen und auch die Ponies (wenngleich Letztere nur von Weitem). Wir haben danach noch eine schöne Zeit auf der Familienfeier verbracht. Doch das größte Geschenk des Tages war die Lehre vom Erleben und Fühlen des Moments, nachdem Justus mir mit seinem Verhalten die Augen geöffnet hat. Einfach mal im Augenblick leben, die Welt vergessen und der Neugier folgen, um Momente und Orte zu erleben und zu erfühlen. Daran sollte ich arbeiten.
Foto: Maximilian „Maxx“ Unger