Die Straße zieht mich fort …

Von Hagen|2. Juni 2016|#notjustsad

Hagen. Ein weiterer Text aus der Serie über meinen Weg durch meine Depression. Zur Dokumentation meines Weges und meiner Gedanken, die ihn begleiten. Eine Art Abenteuer, wenn auch nicht von der Sorte, wie man sie Anderen wünscht. Dennoch freue ich mich über jede Art des Austausches, zum Beispiel in den Kommentaren.

Die Straße zieht mich fort und ich folge. Gefühlt immer noch im Dauerlauf, getrieben von Ansprüchen, die man zu seinen eigenen macht. Das Leben zieht an mir vorbei, schon wieder ist das Jahr zur Hälfte vergangen, ich selber werde älter – und habe keine Zeit, um einfach mal inne zu halten und eine Pause einzulegen. Fühle mich weiterhin wie getrieben, fühle den Druck im Nacken. Den Stress, dem ich scheinbar nicht entfliehen kann. Bis ich wieder einmal mit Trauer im Herzen und Tränen in den Augen vor dem Rechner sitze und einfach nicht verstehe, woher diese Leere wieder kommt. Diese Einsamkeit und Niedergeschlagenheit, die sich wie Nebel plötzlich auf mich herab senkt.

Immer noch stehe ich schon nach kurzer Zeit überrascht und verblüfft vor einer massiven Wand, welche die Grenzen meiner eigenen psychischen Konstitution darstellt. So wenn ich nach einigen Stunden auf der Role Play Convention in der Messe Köln-Deutz anhand der Menschenmassen verzweifle und mich in die Einsamkeit und Stille meiner Wohnung zurück wünsche. Wenn ich anhand des großen Angebotes der Händler überfordert bin und nur noch weg möchte. Passiert am letzten Samstag, als ich Abends daheim nicht nur geistig und seelisch, sondern auch körperlich fertig war mit der Welt.

Auch jetzt sitze ich vor dem Rechner und fühle eine Leere und Trauer, die mich innerlich zerreißt. Das Wetter trägt sicher seinen Teil dazu bei. Grau ist der Himmel, es regnet und das Ahrtal versinkt in den Fluten. Doch das allein kann es nicht sein. Vielleicht war es die Aktivität der letzten Tage, in denen ich mich auf mein erstes Larp des Jahres vorbereitet und einen neuen Charakter ausgestattet habe – und jetzt mit dem Packen der Sachen der Stress von mir abgefallen ist. Möglicherweise war es auch der Besuch meiner Söhne mit Freunden, die jetzt mit Larp beginnen möchten und Beratung brauchten – und obwohl nett und angenehm vielleicht zuviel war.  Wahrscheinlich waren es jedoch auch viele Faktoren in den letzten Tagen, die zusammen kamen und kommen.

Doch eins war es meinem Gefühl nach ganz sicher: Ich bin auf der Straße der Anforderungen gelaufen, aber war nicht auf den Pfaden der Freiheit unterwegs. Den Pfaden durch die Natur, in denen die Zeit keine Rolle spielt und meine Gedanken sich frei entfalten dürfen. Seit über einer Woche bin ich nicht spazieren gegangen. Teils auf Grund des wirklich miesen Wetters, teils wegen den Arbeiten zur Ausstattung des neuen Larp-Charakters – aber heute morgen hat es mich wie ein Hammer getroffen, wie sehr ich diese Zeit vermisse. Und wieder die Erkenntnis, dass ich mir die Zeit dafür auf jeden Fall nehmen muss!

Dabei habe ich gerade das Gefühl, dass ich besonders in den nächsten Wochen keine Zeit dafür finden werde. Gefühlt ständig habe ich Arzttermine. Bei meinem Facharzt, bei der neuen Psychotherapeutin, beim Zahnarzt und dann noch einige Tage in der Venenklinik zu einer OP. Viele Tage, die ich nicht für mich habe. Und selbst ein Termin von einer Stunde stellt einen Termin dar, den ich an dem Tag habe – und damit steht der Tag nicht mehr mir allein zur Verfügung. Ich laufe wieder in einem Hamsterrad, fremdbestimmt, komme nicht zur Ruhe.

Man mag einwerfen, dass das „normal“ ist. Dass jeder Mensch Termine, Anforderungen und Ansprüche hat bzw. gestellt bekommt. Dass man mit dieser „Normalität“ klar kommen muss. Das mag stimmen. Aber ich komme damit nicht klar. Ich kann mich in den Zeiten dazwischen nicht oder nur sehr schwer entspannen, meine keine eigene Zeit für mich zu haben, habe das Gefühl nur ständig unter Druck zu stehen, bin daher auch ständig überfordert und kann nur schwer auf spontane Planänderungen eingehen. Das mag nicht „normal“ sein – aber genau deshalb bin ich (unter anderem) ja auch krank.

Mit Menschen, die ein Beinbruch haben, diskutiert man ja auch nicht, dass sie sich nicht anstellen und losmarschieren sollen, da es ja „normal“ ist gehen zu können. Ich aber habe ständig das Gefühl, dass ich mich rechtfertigen muss, warum ich krank bin. Nur weil man etwas nicht sieht, nur weil man nicht an Krücken geht, nur weil man nicht bettlägerig ist, heißt es nicht, dass man gesund ist.

Mir ist klar, was hinter meinem Rücken geredet wird und auch schon bei meinem ersten Burnout geredet wurde – aber das Schlimmste ist, dass man selbst sich die selben Fragen stellt und Vorwürfe macht. Und genau das führt zum Teufelskreis, das man sich unter Druck setzt, um schnell wieder „normal“ zu sein, und sich damit immer weiter von dem „Normalzustand“ entfernt. Als ob die Selbstzweifel nicht auch ohne Selbstvorwürfe ausreichen würden.

Die Erde dreht sich weiter. Und ich drehe mich mit. Ohne Pause. Drehe mich, komme aber gefühlt nicht weiter. Drehe durch. Bis ich wieder in Trauer und mit einer innerlichen Leere inne halte, bevor sich die Erde wieder weiter dreht. Und ich mich mit ihr. …

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