Gedankenfragmente
Hagen. Ein weiterer Text aus der Serie über meinen Weg durch meine Depression. Zur Dokumentation meines Weges und meiner Gedanken, die ihn begleiten. Eine Art Abenteuer, wenn auch nicht von der Sorte, wie man sie Anderen wünscht. Dennoch freue ich mich über jede Art des Austausches, zum Beispiel in den Kommentaren.
Acht Tage ist mein letzter Beitrag her. Als Grenzgänger bin ich weiter unterwegs. Entlang einer Grenze, die an sich von mir bestimmt wird. Eine Grenze, die ich aber scheinbar nicht immer bestimmen kann. Der Fluch der Differenz zwischen den eigenen Bedürfnissen und Träumen auf der einen und dem erlerntem und verinnerlichtem Verhalten auf der anderen Seite. Aus diesem Kampf zwischen den Polen scheint auch das ewige Auf und Ab zu entspringen. Letzte Woche noch unterwegs durch ein tiefes Tal war ich diese Woche eher auf lichten Höhen unterwegs. Bin jetzt schon gespannt, was die nächste Woche bringt.
Doch in der letzten Woche habe ich wieder mal erkennen müssen, dass ich öfter über meinen eigenen Schatten springen muss, wenn ich vorwärts kommen will. Dass ich mit alten Gewohnheiten brechen muss, um weiter zu kommen. Dass ich in Bequemlichkeit und Sicherheit zwar existieren, aber nicht leben kann. Doch diese Erkenntnis kommt nicht über Nacht. Sie zu begreifen und dann auch noch umzusetzen erst recht nicht. Doch am Anfang dieses Prozesses stehen immer Gedankenfragmente …
Gedankenfragment 1: „Be an Adventurer!“
Abenteuer erlebt man nicht in den eigenen vier Wänden. Wahre Abenteuer findet man nicht in der eigenen Komfortzone. Das richtige Leben findet nicht im Internet statt. Ist nicht in Watte gepackt, sondern spontan und überraschend. Um es zu erleben und zu spüren muss man aufhören zu grübeln und sich zu sorgen. Man muss die Schuhe schnüren und einfach mal starten. Auf den Bauch hören. Die Nase im Wind, einen neuen Kurs bestimmen und die Segel setzen, wenn das Leben ruft. Wenn das Fernweh lockt. Handeln, nicht zögern und zaudern. „Vorwärts!“ ist die Losung.
Kein neuer Gedanke, doch immer wieder bremst noch vor der Tür der Zweifel. Doch vor einer Woche habe ich ihn ignoriert. Schneller Entscheidungen gefällt und gehandelt, als er sich zu Wort melden konnte. Letzten Freitag die Entscheidung: Wir wollen nicht nur ans Meer, sondern wir fahren ans Meer. Dreieinhalb Stunden Fahrt pro Strecke sind kein Grund, auf etwas zu verzichten. Also Auto vollgetankt, Klamotten und Kamera gepackt, Reiseführer gekauft, Verena von der Arbeit abgeholt und los ging es nach Zandvoort. Ich habe es keine Minute bereut.
Noch jetzt klingen diese Tage und Stunden in meiner Seele und meinem Geist nach. Es fühlt sich großartig an, wenn man einfach mal mutig und spontan entscheidet Entdecker und Abenteurer zu sein. Mit Sicherheit wird es nicht das letzte Abenteuer dieser Art gewesen sein.
Gedankenfragment 2: „Creativity takes courage.“ (Henri Matisse)
Samstags waren wir in Amsterdam. Es war mein erster Besuch in dieser Stadt. Und was für eine Stadt! Wow! Sie präsentierte sich mir mit einer spürbaren Leichtigkeit des Seins, die sich selbstbewusst zwischen historischer Erinnerung und moderner Weltgewandheit positioniert. Die Atmosphäre ist gefühlt jung und mutig. Einfach hip. Wer noch nie dort war sollte jetzt seinen Koffer packen und dort mal vorbei schauen. Auch wir werden sicher wieder kommen, denn mit einem Tag wird man Amsterdam nicht gerecht.
Doch die Stadt hat mich noch auf einer anderen Ebene überwältigt. ich wurde von einer Welle der Kreativität erfasst. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich bisher in Großstädten auf der Straße so vielen interessanten Charakteren begegnet wäre. Menschen, die mit ihren Gesichtern und ihrem interessanten, oft individuellen und extravaganten, aber immer stilsicheren Modebewusstsein, aus der Masse alltäglicher Leute herausstachen. Gesichter mit ihrer Kleidung einfach „Typen“ darstellen und in mir den Wunsch erwachen ließen sie einfach anzuhalten und fotografisch festzuhalten. Zu dokumentieren. Auf diesem Wege zu bewahren.
Ich erinnere mich zum Beispiel an eine junge Frau mit langen, blonden Haaren, die im Stil der 1950er gelockt waren. Dazu passte der rote Lippenstift und der Mantel mit den Fellbeschlägen an den Ärmelenden. Die Strumpfhose mit den Docs ergab einen interessanten Kontrapunkt, wie man sie in meinem Lebensumfeld eher selten bis nie antrifft. Ich denke zurück an die schick gekleidete Gruppe von Männern mit Bärten, von denen ich noch ein paar Monate entfernt bin. Bärte, wie sie derzeit auch „In“ sind, aber bei uns meist nur amüsiertes Lächeln und abfällige Kommentare hervor rufen.
In Amsterdam stand ich, blickte mich um und sah die vielen Menschen, die (zumindest in Modefragen) ihr Ding machten. Dagegen erscheint Deutschland mutlos. Lieber mit dem Strom schwimmen als auffallen. Doch Kreativität braucht Mut. Den Mut auch mal etwas Anders zu machen. Kreativität braucht genauso den „Joie de vivre“, die heitere Lebensfreude, die ich in den Straßen von Amsterdam gespürt habe. Nicht mit Weltschmerz durch die Welt gehen, sondern das Schöne und Heitere erkennen, wahrnehmen und erfahren. Mir dann mal auch ein Herz fassen und mit Mut die Menschen auf der Straße ansprechen und fotografieren, was es wert ist fotografiert zu werden. Mehr Mut für mehr Kreativität. Was Anderes, was Neues wagen. Weil es Spaß, weil es Freude macht. Mit Freude und Mut im Herzen.
Gedankenfragment 3: „He who returns from a journey is not the same as he who left.“
Nichts am letzten Wochenende hat auf mich jedoch einen so starken Eindruck gemacht wie der Besuch des Rijksmuseums. Mehr Gemälde und Objekte, als wir in unseren viel zu kurzen vier Stunden Zeit gehabt hätten entsprechend zu würdigen. Vor vielen Bildern habe ich lange gestanden, in der Betrachtung versunken, voller Bewunderung. Irgendwann, nach einigen Stunden, war ich an einem Punkt, an dem ich mich einfach hätte hinsetzen und weinen können. Weinen angesichts der Schönheit, des Talents und des Könnens, das mich umgeben hat.
Viele dieser Gemälde waren nicht nur faszinierend, sondern haben mich auch inspiriert für meine weitere fotografische Arbeit. Zu den Bildern, die mich beeindruckt haben zählen der Tod der Jungfrau, das Porträt von Sir Thomas Gresham, Heraclitus, das Porträt von Magdalena de Cuyper, das Porträt von Hugo de Groot, die Gruppe unbekannter Herren, der jungen Frau mit dem Hund Puck – und viele andere, die ich leider nicht mehr zusammen bekomme. Bin immer noch überwältigt …
Was mich bei der Betrachtung dieser Kunstwerke wirklich übermannt und bewegt hat ist kaum in Worte zu fassen. Ich habe das Museum nicht als der Mensch verlassen, als der ich es betreten habe. Ich werde versuchen die dort empfundenen Gefühle in meinem Inneren als Erinnerungen zu konservieren und kann nur Jedem raten öfter in Kunstmuseen zu gehen und die Werke auf sich wirken zu lassen. Wir haben zumindest genau das vor.
Gedankenfragment 4: „Not all those who wander are lost.“ (J.R.R. Tolkien)
Reisen. Wandern. Fotografieren. Schreiben. Eine Art der Eigentherapie. Für mich.
Reisen weitet meinen Horizont. Schult mich wieder mit unvorhergesehenen Ereignissen fertig zu werden. Spontan zu sein und zu improvieren. Andere Lebensweisen und Lebenskonzepte, Lebenseinstellungen und Lebensphilosophien zu erleben, zu erfahren und zu erspüren. Aber auch auf neue Gedanken zu kommen, neue Erfahrungen zu sammeln und dadurch nicht im Sumpf der eigenen Alltagsrealität zu versinken. Es hilft aus der Utopie der Verzweiflung heraus zu kommen.
Das Wandern durch die Natur lernt mich die Welt mit neuen Augen zu sehen. Mit den Augen eines Entdeckers die Schönheiten zu erleben und zu genießen. Die Gedanken streifen und die Seele mit dem Wind fliegen zu lassen. Nachdenken. Auf mich selbst zurück geworfen. Gedankenfragmente schießen durch den Kopf. Immer ein Notizbuch für Erkenntnisse griffbereit durchstreife ich die Welt.
Mit der Fotografie schöpferisch und kreativ sein zu können, macht mich glücklich. Gibt mir Befriedigung und meine Erfolgserlebnisse. Mit meinen Texten im Blog suche ich meine Gefühle und Empfindungen, meine Gedanken und Erfahrungen in Worte zu pressen, damit sie nicht verloren gehen. Vielleicht anderen Menschen Hoffnung geben, die in ähnlicher Situation stecken. Sie und ich sind in und mit der Krankheit nicht allein, wie ich erfahren durfte. Und zu meiner Krankheit stehen, heißt auch zu mir stehen.
Ich bin ergo mit den Sachen, die mir Spaß und Freude machen, in Aktion. Es ist meine persönliche Aktion gegen die Depression.
Vielleicht ist das Alles aber auch Unsinn und ich rede es mir ein. Vielleicht sind meine Aktivitäten eine Art Verdrängung. Doch letzendlich habe ich nicht Psychologie studiert und eigentlich ist es mir auch egal, so lange es mir gut tut und mir hilft seelisch und geistig wieder auf die Beine zu kommen. Dann bin ich, egal wo ich bin, nicht verloren, sondern auf einem guten Weg.
Gedankenfragment 6: „Never forget that only dead fish swim with the stream.“ (Malcolm Muggeridge)
Ich denke, hoffe, glaube, dass ich auf einem für mich guten Weg bin. Das muss nicht zwingend der Weg sein, den die Mehrheit als richtigen Weg bezeichnet. Nicht der Weg, der logisch und vernünftig erscheinen oder sein muss. Es muss nur der Weg sein, der für mich gut ist und mit dem ich auch viele Jahre leben kann – anstatt in wenigen Jahren wieder in Depressionen zu verfallen. Ich bin jetzt wieder da drin, aber ich will da nicht nur raus, sondern auch danach möglichst nicht mehr wieder rein!
Ich erinnere mich daran, dass mein Vater als Selbstständiger viel gearbeitet hat. Wenn er wegen Terminen nicht mit uns wegfahren konnte hat er oft gesagt, dass er für unseren Wohlstand arbeitet. Ja, wir haben uns damals viel leisten können und auch mir haben sich durch seine Arbeit viele Möglichkeiten geboten. Doch schon damals habe ich mich gefragt, wieso man für einen Wohlstand arbeitet, für dessen Genuß man selber nie die Zeit hat.
Für den Wohlstand läuft man beständig im Hamsterrad und verschiebt die Erfüllung von Träumen und Wünschen auf einen späteren Zeitpunkt. Einen Zeitpunkt, in dem man dann nicht nur Zeit, sondern auch das entsprechende Geld hat. Nach der Zeit im Hamsterrad, in dem die Leistung wichtiger ist als man selbst und die Erfüllung von Kundenwünschen vor den eigenen Bedürfnissen geht. Bis man aussteigt und feststellt, dass man für die Erfüllung seiner Träume zu spät dran ist, weil man zu alt ist, um sie noch zu realisieren.
Womit wir wieder – wie bei meinem letzten Beitrag hier – bei dem Lied „Remember when“ und der Anfangssequenz des Films „Oben“ wären. Und meiner Angst davor ein Leben zu fristen, das an sich nicht wert ist gelebt zu werden. Nein Danke, ohne mich!
Gedankenfragment 6: „Manchmal ist es an der Zeit, sich Zeit zu nehmen.“ (Katharina von Balbin)
Ich habe keine Zeit. Immer noch nicht. Und immer noch ist es verrückt. Seit nunmehr acht Wochen krank geschrieben und immer noch habe ich das Gefühl nur partiell zur Ruhe zu kommen. Ständig scheine ich was zu tun zu haben und noch so viele Sachen anzustehen, die ich machen möchte oder getan werden müssen. Total bescheuert im Grunde, aber ich habe eine (gefühlt) riesige To-Do-Liste. Von Fotos nachbearbeiten über Telefonate und Schreiben wegen der Krankheit bis hin zu Überlegungen über die Zukunft (You know: „Der zweite Schritt“).
Objektiv natürlich totaler Blödsinn. Und doch fühle ich den Druck und Stress, der daraus erwächst, fast körperlich. Versuche ständig alles abzuarbeiten, während immer neue Dinge dazu kommen. Laufe in einem Hamsterrad (sic!) aus dem ich scheinbar nicht rauskomme. Wie auch, wenn ich es selber aufgestellt und mich hinein begeben habe. Ich weiß es, aber ich bin einfach unfähig den Weg hinaus zu finden. Es ärgert und frustriert mich, aber ich suche immer noch erfolglos den Ausgang. Selbst während ich den Text hier schreibe habe ich ein schlechtes Gewissen, weil es ja noch andere Dinge zu tun gäbe.
Das schlechte Gewissen wird auch nicht besser, wenn ich daran denke, was ich in der Zeit, die ich nicht habe, vernachlässige. Zum einen die Fotografie, der ich mich eigentlich (noch) stärker widmen möchte. Ich will mehr lernen und mich weiterentwickeln. Möchte mehr Menschen fotografieren. Möchte auch mehr Menschen treffen – wobei wir an dem eigentlichen Punkt sind: Ich finde durch diese subjektive Zeitnot einfach nie die Zeit mich mit den Menschen zu treffen, die gut für mich sind, die mich geistig fordern, die es einfach wert sind. 🙁
Ich muss da was ändern. Ich brauche ein besseres Zeitmanagement. Auch wenn ich noch nicht weiß wie …
Gedankenfragment 7: „Every day is a new beginning. Stay away from what might have been and look at what can be.“
„Wenn ich zurück blicke sehe ich vor allem verpasste Chancen. Träume und Pläne, die am Alltag zerschellt sind. […] Ich stelle mir vor, was alles hätte sein können, was ich alles hätte werden und vor allem was ich alles hätte machen können„, schrieb ich hier vor etwas über einer Woche. Fragte mich, was gewesen wäre, wenn ich (so früh) keine Kinder bekommen hätte? Was gewesen wäre, wenn ich mein Studium nach dem Scheitern der ersten Ehe weiter gemacht und das mir in Aussicht gestellte Stipendium bekommen hätte? Was wenn ich in größeren, internationalen Architekturbüros gearbeitet hätte? Wenn ich mich von Anfang an stärker auf die Fotografie fokusiert und mehr an meinen Skills gearbeitet hätte? Was gewesen wäre, wenn ich an einigen Wegpunkten anders abgebogen wäre?
Ich würde sicher woanders stehen. Wäre sicher ein anderer Mensch. Aber ob ich gesünder, glücklicher und zufriedener wäre? Ob ich mich überhaupt leiden könnte? Ich weiß es nicht und letztendlich Gedanken, die zu Nichts führen. Denn meine Vergangenheit ist eine Geschichte, die erzählt wurde. Geschehen, aber vergangen und unveränderlich vorbei. Wie die Erzählungen der Edda und des Nibelungenliedes Vergangenheit, die keine Macht über mich hat. Nur die Macht über mich hat, die ich ihr zugestehe. Derzeit mehr, als sie verdient.
Das muss sich ändern. Denn jede Minute, in der ich mich über die Vergangenheit ärgere und mit ihr hadere, ist eine nutzlos verschenkte Minute. Denn in dieser Zeit könnte ich so viel tolle und viel sinnvollere Sachen machen. Die Vergangenheit zählt nicht mehr, denn es beginnt ein neuer Tag und damit eine neue Zeit. Statt sich mental und emotional an die Vergangenheit zu fesseln, heißt es die Gegenwart mit seinen unvergleichlichen Momenten zu genießen und die Erinnerungen in die Geschichte einzubetten. Die Zukunft, das unentdeckte Land, mit Neugier und Vorfreude zu begegnen, die Chance auf Wandel wahrnehmen – das macht so viel mehr Sinn. „Vorwärts, nicht zurück“, heißt das Motto.