Die Utopie der Verzweiflung
Hagen. Ein weiterer Text aus der Serie über meinen Weg durch meine Depression. Zur Dokumentation meines Weges und meiner Gedanken, die ihn begleiten. Eine Art Abenteuer, wenn auch nicht von der Sorte, wie man sie Anderen wünscht. Dennoch freue ich mich über jede Art des Austausches, zum Beispiel in den Kommentaren.
Sturmkrähe ist zurück. Sein langer Schatten kündigte ihn schon vor Monaten an. Wollte ihn nicht sehen, nicht wahrhaben. Nicht abermals scheitern. Scheitern an vermeintlichen und eigenen Ansprüchen. Nicht Andere, nicht mich enttäuschen. Nicht, nachdem ich vor weniger als drei Jahren schrieb „Ich bin wieder da“. Auch damals noch auf dem Weg, Sturmkrähe als Begleiter. „Der Weg ist das Ziel“. Doch irgendwo auf dem Weg habe ich mich wieder verloren. Bin wieder an dem Punkt angekommen, an dem ich vor einigen Jahren schon mal gewesen bin.
Seit vier Wochen bin ich wieder auf der Suche nach festem Stand. Ständig kreisen die Gedanken um den weiteren Weg. Verliere ich mich in Überlegungen, wohin ich gehen kann und sollte. Sinne nach über den zweiten Schritt, bevor ich überhaupt den Ersten gegangen bin. Grübelnd über das Gehen des weiteren Weges, bevor ich wieder auf eigenen Beinen stehen kann. Mein Kopf, mein Geist, meine Seele kommt nicht zur Ruhe.
Eine seltsame Traurigkeit ist mein unterschwelliger, ständiger Begleiter. Zweifel und Angst lauern hinter einem dünnen Schleier. Unterwegs in einer eingebildeten, aber tief empfundenen Einsamkeit. Erdrückt von Anforderungen. Ich habe keine Zeit. Keine Zeit für die alltäglichen Aufgaben. Keine Zeit für mich. Gefühlt. Meine Wahrnehmung ist meine Realität. Gescheitert? Verzweifelt.
Der erste Impuls: Verstecken und Eingraben. Die Augen verschließen. Die Welt aussperren. Fliehen und alle Brücken abbrechen. Einfach alleine sein. Ruhe, Stille, Frieden. Suchen und finden. Eine erste Utopie der Verzweiflung. Ich schließe die Augen. Blende die Welt aus. Ein Versuch. Sinnlos. Meine Gedanken kommen nicht zur Ruhe. Kreisen weiter. Wälzen Ideen und Probleme, Herausforderungen und Lösungsansätze.
Die drängende Frage: Wie kann ich in Zukunft leben? Die Pflicht ruft! Es schmerzt. Die erlernte Logik pocht auf Leistung und Sicherheit. Das Herz schreit nach Freiheit und Abenteuer. Ich kenne die wirklich wichtige Frage: Wie will ich leben? Taste mich langsam an sie heran. Hadere mit ihr. Was ist aus der Verzweiflung geborene Utopie, was alltagstaugliche Vision?
Doch da sind sie wieder: Die Gedanken über den zweiten Schritt. Über das Gehen im Alltag, bevor man in der Welt stehen kann. Die Erkenntnis: Ich muss mit mir leben. Oder besser: Ich möchte mit mir leben. Möchte den Weg weitergehen, den ich vor einigen Monaten begonnen habe. Nach 25 Jahren endlich Nichtraucher. Fast zehn Kilo abgenommen. Unterwegs: Reisen und Wandern. Nicht die Augen verschließen vor der Welt, sondern mit allen Sinnen die schönen Seiten erkennen und entdecken.
Doch reicht das? Was kommt danach? Wie geht es weiter? Die Fragen bleiben. Die Zweifel auch.
Ich lebe in einer Utopie der Verzweiflung. Eine Fiktion, die mich träumen, hadern und verzweifeln lässt. Eine Fata Morgana, hinter der die Wüste lauert. Träume, umzingelt von der Eintönigkeit des Alltags. Das innere Verlangen den eigenen Traum zu leben. Die eigenen Träume, denen man nicht mehr vertraut. An ihnen zweifelt. Erscheinungen, fragil und unwirklich, wie der Tanz auf seidenem Papier. Wie der Marsch über dünnes Eis. Ständige Angst, dass die brüchige Utopie kollabiert.
Eine Utopie, in der ich mich nicht häuslichen einrichten darf. Eine Fiktion, in der es auf Dauer kein Verharren geben kann. Ich muss weiter. Ich möchte weiter. Ich will leben. Mit mir. Das Leben spüren. Die Welt erleben. Mit allen Sinnen. Eine Existenz, die nicht das Leid ins Zentrum stellt. Das Leid nicht als Ansporn und Grundlage des Lebens definiert. Freude für mehr als nur einen Lidschlag empfinden. Die Augen öffnen und mit dem Herzen sehen.
Der Verstand verweist auf einfache Lösungen. Die Logik, was gesund und was ungesund ist, erscheint hell und klar. Auch mir. Doch das Leben funktioniert nicht logisch. Wir sind irrationale Wesen. Traurig, wenn es anders wäre. Wenn wir unsere Welt nur verwalten würden, anstatt sie mit allen Sinnen zu erforschen. Doch meine Emotionen scheinen aus dem Gleichgewicht. Ein ständiger Flug von den tiefsten Schluchten zu den höchsten Gipfeln und zurück. Chaos wogt in mir. Momente mit Sonnenschein wechseln sich mit grauverhangenen Zeiten ab. Keine Ruhe. Keine Stille im Kopf. Verzweiflung.
Doch selbst in dunkelster Nacht leuchtet irgendwo ein Licht. Sterne durchbrechen die Dunkelheit. Die Familie, ein Fixstern, der in jeder Lebenslage Halt gibt und den Rücken stärkt. Wahre Freunde, die in Zeiten des Zwielichts ins Licht treten. Die mir fast täglich durch gute Gespräche, viele Nachrichten und Einladungen zeigen, dass ich nicht alleine bin. An ihrer Spitze schreiten die besonderen Menschen aus Dorlónien und anderen Gegenden der Larp-Welt. Danke! Meine Frau, die gerade ihren eigenen Weg durch dunkle Täler geht. Gemeinsam stützen, halten, aufrichten und an Stärke gewinnen. Ild.
Ungebrochen die Wanderlust. Das Fernweh. Unterwegs sein. Auf Schusters Rappen durch die Eifel. Durch Landschaften. Reisen. Nach nah und fern. Die Welt erforschen. Das Leben fühlen. Nah dran und mittendrin, statt nur dabei. Mit mehr Zeit und Muße als bisher. Das aus der Angst etwas zu verpassen geborene Rennen beenden und den Augenblick genießen und würdigen. Bewusster leben und erleben. Auch Neues wagen und unbekannte Wege gehen. Raus aus der eigenen Komfortzone. Auf zum unentdeckten Land hinter dem Horizont. Mit Neugierde und einer Portion Lust auf das Unerwartete neue Möglichkeiten finden.
„Die wahren Entdeckungen kommen überraschend. Man kann sie nicht erzwingen oder beeinflussen. Aber man kann sich doch auf sie vorbereiten: Nur ein wacher Geist wird sie finden.“ aus dem Buch „Macht was Ihr liebt!“ von Anja Förster und Peter Kreuz
Denn Geist von unnötigem Balast befreien. Weniger erzwungene Logik, die sowieso nicht funktioniert. Mehr Emotionen. Auf Gefühle hören. Mal nach dem Bauch entscheiden. Die vermeintliche Schwäche in Stärke wandeln. Die Kreativität wieder mehr leben. Jede Kunst ohne Emotionen ist blutleer. Das Chaos in mir nutzen für mehr Kreativität. Mehr Geschichten. Frei und ungezwungen. Offen für neue Erfahrungen und Wege.
Es ist noch ein weiter Weg. Ich stehe ganz am Anfang. Doch die Straße ruft mich. Ich muss gehen. Jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt. Wo man das Ziel nicht kennt ist nur der Weg wichtig. Selten geradlinig, meist mit Kurven und Umwegen. Schlenker voller Begegnungen und Begebenheiten. Von der Utopie der Verzweiflung in eine ungewisse Zukunft. Wir leben in interessanten Zeiten.